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doch die Gefahren werden nicht verschwiegen:China wird zur Überraschung des Jahres 2023
Noch wütet Corona, doch für immer mehr Genesene beginnt ein neues Leben mit wieder mehr Freiheiten und Zuversicht. Macht die chinesische Führung keine Fehler, dürfte sich China schneller erholen und stärker wachsen als derzeit antizipiert. Davon wird auch der Rest der Welt profitieren.
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Ein durch die Intensität der Corona-Welle überfordertes Gesundheitssystem stellt die dunkle Seite der Medaille dar. Doch die hohen Infektionsraten implizieren auch, dass die Welle schneller wieder abebben wird, wenn sich genügend Menschen eine Immunität gegen das Virus erworben haben. Die hellere Seite der Medaille besteht denn auch darin, dass das anstehende chinesische Jahr des Hasen für die meisten Chinesen endlich die Befreiung von den Pandemie-Wirren und wieder mehr Freiheit bringen dürfte.
Zumindest wer eine Corona-Infektion sicher überstanden hat (was ja in den meisten Fällen innerhalb von einer Woche passiert), kann sich wieder relativ ungehindert und zuversichtlich im öffentlichen Raum bewegen und seinen Geschäften nachgehen.
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Chinas Wirtschaft hat im vergangenen Jahr stark gelitten. Statt des üblichen Wirtschaftswachstums zwischen 6 und 8 Prozent sackte dieses auf je nach Schätzung 2,5 bis knapp 5 Prozent ab (wobei die untere Schwelle der Realität näherkommen dürfte).
Für 2023 erwarten Weltbank, Währungsfonds und OECD nun einen eher leichten Anstieg auf 4 bis 5 Prozent. Doch die Chancen stehen gut, dass China zur Überraschung des Jahres 2023 wird und stärker wachsen wird als derzeit noch erwartet.
Dafür spricht erstens die Erfahrung in den westlichen Ländern, welche die Lockdowns längst hinter sich haben. In der Schweiz etwa haben sich die Umsätze im Detailhandel in den beiden Lockdowns von März bis Mai 2020 und Januar bis Februar 2021 rund halbiert. Gleich nach deren Ende haben sie aber wieder stark angezogen. Die Konsumneigung blieb für den Rest des Jahres über den Werten vor Corona.
Ob und wie stark dies auch in China der Fall sein wird, dürfte unter anderem davon abhängen, wie schnell die Infektionswellen abebben und in welchem Umfang die Chinesen Geld zur Seite legen konnten. Es ist zu erwarten, dass der Nachholbedarf gerade bei den konsum- und reiselustigen jüngeren Chinesinnen und Chinesen gross ist.
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Die Weltbank schätzt, dass der private Binnenkonsum im laufenden Jahr ungefähr gleich viel zum chinesischen Wirtschaftswachstum von insgesamt 4,3 Prozent beitragen wird wie die Investitionen. Damit wäre der Wachstumsbeitrag des Konsums nur etwa halb so gross wie noch im Jahr 2021. Die Chancen für eine positive Überraschung stehen gut.
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Bei den Investitionen ist es vor allem der Immobiliensektor, der das Wachstum bremst. Hier ist es in der Vergangenheit ohne Zweifel zu Übertreibungen gekommen. Weil im überregulierten binnenchinesischen Finanzmarkt Investitionen in Immobilien lange Zeit die lukrativste Art des Sparens waren, kletterten die Preise in Höhen, die es «normalen» chinesischen Familien verunmöglichen, eine Wohnung zu kaufen. Die Administration des chinesischen Staatschefs Xi Jinping reagierte darauf mit starken Einschränkungen und Vorgaben für die Immobilienentwickler. Da diese mit waghalsigen Fremdkapitalhebeln operierten, droht seither nicht nur dem weltgrössten Immobilienentwickler, der Evergrande Group aus Shenzhen, der Konkurs.
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Die chinesische Führung scheint realisiert zu haben, dass sie wieder wirtschaftsfreundlicher operieren sollte. Die Vorgaben für die Immobilienentwickler wurden etwas gelockert.
Während das Wachstum der Infrastrukturinvestitionen sinken sollte, gibt es in der Industrie und im Dienstleistungssektor Luft nach oben. Prompt mehren sich die Anzeichen, dass China für in- und auch für ausländische Investitionen in der Industrie wieder attraktiver werden möchte.
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Wenn China stärker wächst, hilft das der Weltwirtschaft. Für dieses Jahr erwartet die Weltbank trotz ihrer vorsichtigen Schätzung, dass das Reich der Mitte nahezu die Hälfte zum (gedämpften) weltweiten Wachstum beitragen wird, der Euro-Raum hingegen nichts. Überrascht China positiv, weil es sich schneller und stärker als erwartet vom Dämpfer der Zero-Covid-Politik erholt, wird es erst recht zum dominanten Wachstumsfaktor werden.
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Keine frohe Kunde ohne Kehrseite. China steht für rund 15 Prozent der weltweiten Nachfrage nach Erdöl und 10 Prozent des globalen Verbrauchs an Erdgas (wobei es Letzteres zu 60 Prozent selber fördert). Die reduzierte Wirtschaftsaktivität Chinas hat es im vergangenen Jahr Europa erleichtert, russisches Erdgas durch weltweit eingekauftes Flüssiggas zu ersetzen.
Wächst die chinesische Wirtschaft wieder stärker, so wird das den Rohstoffpreisen Auftrieb geben. Das gilt auch für Eisenerze und Metalle, wo die sich auflösenden Lieferkettenprobleme und eine konjunkturell bedingt sinkende Nachfrage im vergangenen Jahr für Entspannung gesorgt haben.
Die Aussichten sind also gut, dass China schon 2023 (und 2024) zur positiven Überraschung für das Wirtschaftswachstum und gleichzeitig zu einem Faktor wird, der für Inflationsdruck sorgt.
Bedingung für all das ist allerdings, dass die chinesische Führung in Peking tatsächlich ihren ökonomischen Pragmatismus nachhaltig wiederentdeckt. In den vergangenen Jahren hatte der protektionistische Nationalismus stark zugenommen. Die Privatwirtschaft hat unter Xis ideologischem Kurs gelitten.
Sollten sich die Kommunisten unter Xi stattdessen zu einem militärischen Eingreifen in Taiwan entscheiden, ginge China (und der Westen) einer längeren von Sanktionen, Abschottung und Konfrontation geprägten Periode entgegen. Das erscheint derzeit nicht allzu wahrscheinlich, doch das geopolitische Risiko bleibt substanziell.