tanzhou hat geschrieben: ↑15.10.2021, 07:19
Nun mal ehrlich, zumindest an diejenigen addressiert, die wie ich in China fest leben. Merkt man wirklich etwas von all dem? Ich nicht. Ich habe hier ein prima Leben, eine tolle Ehefrau und 2 gelungene Jungs im Alter von 8 und 6. Prima warmes, sub-/tropisches Wetter im Sueden, vielfaeltiges und gutes Essen und ein gutes Auskommen. Dazu kommt ein enger Freundeskreis mit dem man Zeit miteinander verbringt. ich finde das ist qualitativ gesehen ein prima Ambiente und reicht mir. Wirklich mehr hatte / habe ich in DE oder den USA auch nicht. Da bin ich mal ganz Chinese und der Rest interessiert mich nicht.
Vieles von dem was Du ausführst stimmt sicherlich für viele Ausländer, sofern es sich nicht um Studenten oder Lehrkräfte handelt.
Auch ich lebe seit mehr als einem Jahrzehnt in China, bin hier verheiratet, habe eine süße 6jährige Tochter, hab' eine Wohnung erworben, fahre ein Auto und kann in vielen Teilen mein Leben so gestalten, wie ich es möchte.
Der thread hier hatte aber als Überschrift "Wird China jetzt kommunistisch?" und dies fand ich spaßig.
Ich möchte hier jetzt keine wissenschaftliche Ausarbeitung beginnen, sondern nur einige wenige Gedanken nennen.
Zu "Kommunistisch" existieren mehrere Definitionen, im allgemeinen geht man aber von einer "klassenlosen" Gesellschaft aus.
Vieles ist "Volkseigentum", der Zugang für jeden gleich (etwa zu Schulen, Universitäten, Krankenhäusern).
Es ist ein gesellschaftliches Modell welches auf sozialer Gleichheit und persönlicher Freiheit und kollektiver Problemlösung beruht.
Nach meinem persönlichen - möglicherweise falschen - Eindruck ist China aber das kapitalistischste Land, dass ich je persönlich bereist habe.
Wer in China über kein Geld verfügt, hat keinen Zugang zu guter Bildung, zur Gesundheitsversorgung, zu einer ordentlichen Wohnung und ist im Alter verarmt und auf Dritte angewiesen.
Die persönliche Freiheit besteht darin, dem Verhaltensdiktat der Parteidiktatur zur folgen (ich weiß das klingt jetzt "dicke"). Es gibt dazu tausende Beispiele. Etwa wenn Schauspielerinnen keine sichtbaren Tattoos tragen dürfen oder Schauspielern vorgeschrieben wird, sich in der Öffentlichkeit "männlich" zu geben, kurz geschorene Haare und ein Auftreten wie ein Freiheitskämpfer aus Mao's Zeiten. Wenn Spucknäpfe verboten und das English-Lernen für Taxi-Fahrer zur Pflicht wird, wenn Weihnachtsfeiern verboten und das auswendig lernen der Mao Bibel zur Pflicht wird ..
Kurzum: Für mich pflegt China den
Turbokapitalismus.
Auch zur berühmten "Kaufkraft" hätte ich ein paar Anmerkungen:
a) Wohnung
In meiner Stadt kosten die angehübschten Plattenbauten etwa 6.500 Euro/qm, in Peking sind es mehr als 20.000 Euro/qm, in Shanghai werden leicht 30.000 Euro/qm erreicht.
In den "besseren" Gegenden, in denen es ja kaum noch Wohnungen unter 140 qm "brutto" gibt [also real um 100 qm], kommen so schnell 900.000 Euro - selbst in Xi'an - für eine Wohnung zusammen. Und das für eine Wohnung im Rohbau.
Selbst wer "weit weg" sich eine Wohnung sucht - also etliche Kilometer vom Stadtzentrum, oft ohne Anbindung an U-Bahn, ohne gewerbliche Infrastruktur (Geschäfte, Betriebe) für viele Jahre, in Massensiedlungen (15.000 Menschen je "compound"), der kann 30-40% sparen.
Ein Angestellter in Xi'an kann dies selbst in vielen Jahrzehnten nicht erwirtschaften, Banken in unserem Städtchen bieten deshalb Immobilien-Darlehen mit einer Laufzeit von 100 Jahren an. Die Verkäufer schöpfen also das Einkommen von drei Generationen ab.
Sicher, man kann auch zur Miete wohnen. Das ist aber eine "deutsche" Sache. In keinem Industrieland der Welt ist die Eigenheimquote so gering wie in Deutschland (umfangreiches Thema!). In China - und auch in den USA - will aber niemand zur Miete wohnen, deshalb haben diese Länder mit die höchsten Eigenheimquoten der Welt.
Nach meiner Beobachtung haben sich die Mieten in meiner Stadt etwa alle 3 Jahre verdoppelt und sind damit auch nicht mehr "günstig", schon gar nicht für den chinesischen Otto-Normal-Verbraucher.
b) Gesundheit
Jede chinesische Familie weiß, was ein (längerer) Krankenhausaufenthalt bedeutet. Da Krankenhäuser nur die "medizinische" Versorgung übernehmen, müssen Familienmitglieder in Schichten "am Bett" sitzen und den Kranken versorgen (Verdienstausfall). Die Behandlungskosten sind hoch. Mein Bruder arbeitet in einem deutschen Krankenhaus und wir haben bereits Behandlungskosten verglichen. Bei stationärer Behandlung sind die Kosten deutlich höher als in Deutschland.
Nicht wenige Familien enden im finanziellen Ruin nach einem langen Krankenhausaufenthalt.
Unabhängig davon, macht mich die fachliche Kompetenz von chinesischen Ärzten zu oft sprachlos.
(nicht gleich wieder rumschreien, es gäbe jetzt doch ein ähnliches System wie in Deutschland mit Zwangsversicherungen für Gesundheit und Arbeitslosigkeit. JA ... aber nur für einen winzigen Teil der Bevölkerung).
c) Mittelstand/Mittelschicht
Ich habe einen großen chinesischen Verwandten- und Bekanntenkreis. Und auch gute Nachbarn und Freunde.
Auch Chinesen, welche über Geld verfügen und sich ein, zwei oder drei Apartments in guter Lage leisten.
Nachdem was mir oft erzählt wird, wurde das Vermögen der jeweiligen Familien vor 20 und mehr Jahren aufgebaut.
Die heutigen Porsche-Fahrer sind also oft die Söhne derer, die zu besten Korruptionszeiten ein Vermögen generiert haben, das auch heute noch reicht, um teure Wohnungen zu kaufen.
Eine "Mittelschicht" ist sicher nicht einfach zu definieren und auch länderspezifisch. Auch Chinesen können dies nicht wirklich beantworten.
Soweit ich es für meine Stadt verstanden habe: (Groß-)Eltern wie Kinder besitzen bereits
bezahlte Wohnungen und Autos, das Einkommen liegt im oberen Drittel des Ortsüblichen (in meiner Stadt also bei > 15.000 RMB/mtl).
Aus meiner eigenen Anschauung würde ich den Anteil dieser Mittelschicht in meiner Stadt bei weniger als 15% ansiedeln.
d) Löhne
Sicher, auch in meiner Stadt sind die Löhne gestiegen. In den letzten 10 Jahren haben sich die Löhne in manchen Bereichen verdreifacht, in vielen verdoppelt, in einigen hat sich wenig getan. Als ich neulich alte Aufzeichnungen verglich musste ich lächeln, weil bis heute sich der Preis für chinesisches Bier und Zigaretten kaum erhöht hat. In anderen Bereichen ist dies nicht so. Ich persönlich errechne, dass sich die Lebensmittelpreise etwa verdreifacht haben, (mindestens) verdreifacht haben sich die Immobilienpreise, Restaurants führen für mich die Liste an (5fach), Taxi +50%, Strom +100% ..
Härter ins Budget schlagen die Preise für die Ausbildung der Kinder (+300%).
Insgesamt würde ich sagen, dass die Preissteigerungen die Lohnsteigerungen bei weitem übertreffen. Auch aus diesem Grund fällt die Geburtenrate weiter, obwohl inzwischen drei (warum nicht vier?) Kinder erlaubt sind.
FAZIT
Ich beschwere mich nicht, warum auch?
Ich habe seinerzeit entschieden, hier zu leben und dies war auch lange Zeit so in Ordnung.
Inzwischen macht es aber von der Kosten- und Aufwandsseite keinen Unterschied mehr, in Paris, London, New York, Florida oder auf den Bahamas zu wohnen, oder sonst irgendwo. In vielen Fällen deutlich günstiger als hier.
Ich gehöre auch nicht zu denen, die sich über die Parteidiktatur, die Konzentrationslager in Xinjiang, den Vertragsbruch über Hong Kong, den geplanten Angriffskrieg gegenüber Taiwan oder über die Gehirnwäsche in CCTV und in den Schulen und Universitäten beschweren oder über das desolate Ausbildungs- und Gesundtheitssystem, nein nein!
Ich weiß, dass ich hier nur "geduldet" bin und das "PSB" mich jedes mal wieder f*cken will, dass ich alles gekaufte nicht mitnehmen darf, weil der RMB (manche nennen ihn auch bedrucktes Toilettenpapier) und sein Umtausch in tatsächliche Währungen begrenzt und im Grunde nicht vorgesehen sind ...
Ich lebe hier im Turbokapitalismus, in einer Parteiendiktatur mit menschenverachtenden Zügen und fühle mich dennoch halbwegs wohl, weil ich eigentlich nicht "dazu gehöre".