"Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Allgemeine Fragen und Erfahrungsaustausch rund um China - Kultur - Geschichte usw.
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sanctus
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"Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von sanctus »

Dass das Individuum in China keine große Rolle einnimmt dürfte jedem klar sein, jedoch scheint das Menschenleben an sich eine ebenfalls geringe Rolle eingenommen zu haben. Was mich dazu bringt das zu behaupten? Nun, ich habe es zwar schon mehrfach in chin. literarischen Werken gelesen, in letzter Zeit, sind mir diese Einstellungen zum menschlichen Leben aber auch vermehrt in den chin. Medien (TV, Internet) drastisch aufgezeigt worden. Dazu 3 Beispiele:

1. Beispiel – Die Darstellung toter Menschen in den Medien
Vor allem in den Nachrichten von CCTV werden vermehrt und völlig unverfremdet Tote in Großaufnahme gezeigt. Das erste Mal habe ich das bei der Berichterstattung der Unruhen in der Provinz Xinjiang gesehen. Damals fuhren Reporter durch ein Gebiet, in dem kurz zuvor Uiguren gewütet hatten. Tote Frauen und Kinder wurden, im Straßengraben liegend und mit aufgerissenen Augen, gezeigt. Vor allem Tote mit gut sichtbaren Kopfverletztungen (mit Gehirnmassenaustritt) wurden minutenlang und in allen möglichen Perspektiven gefilmt.
Ebenfalls erschütternd fand ich die Bilder vom inneren des Busses, der vor einigen Jahren in Guangzhou mit dessen Insassen völlig ausbrannte. Die verkohlten Leichen wurden ebenfalls in Großaufnahme gezeigt und kommentiert.

2. Beispiel – Lynchmorde
Die Meisten werden die Lynchmorde zur Zeit der Unruhen in der Provinz Xinjiang damit verbinden, aber leider kommt das in den Provinzen noch recht häufig vor. Im Internet sah ich letztens ein Video in dem 2 vermeintliche Diebe von der männlichen Dorfgemeinschaft gestellt wurden. Man machte sich dann den „Spaß“ daraus die beiden abwechselnd mit Fußtritten blutig zu schlagen. Letztlich nahm man sich dann basketballgroße Steine zu Hilfe und schlug erst auf deren Gliedmaßen ein und schlussendlich dann solange auf deren Köpfe, bis diese verstarben. Das ganze Spektakel wurde von unzähligen Menschen beobachtet, die eine großen Kreis um die Opfer bildeten. Einige filmten das auch mit ihren Handys und amüsierten sich über die Schmerzensschreie der Beiden. Leider keine Einzelfälle, denn von solchen Aktionen höre ich immer wieder mal und viele Chinesen halten so was für absolut legitim.

3. Beispiel – Der Umgang mit Toten
Das habe ich erst vor kurzem mal wieder im Internet gesehen. Die Hintergründe kenne ich nicht genau, aber die Bilder sprachen für sich. Eine schwangere Frau hatte einen Autounfall, in dem sie aus dem Auto geschleudert wurde und sofort verstarb. Irgendwie muss dadurch auch das Kind aus der Gebärmutter gepresst worden sein. Jedenfalls lag die Frau ohne Kleidung und mit totem Kind an ihrer Seite auf der Straße. Die Polizei kam und trug die Frau, an der das Kind mit der Nabelschnurr darunter hang davon und legten sie auf die Ladefläche ihreres Pick-ups und fuhren ohne die Frau abzudecken davon. Natürlich wurde das Ganze wieder mal von den Massen genaustens beobachtet und mit Handys gefilmt oder fotografiert.

Ich erspar euch die Links zu den Videos oder Bildern der o.g. Beispiele, denn die will ich euch auf keinen Fall antun. Ich habe eine Weile im Rettungsdienst gearbeitet und da auch viele üble Sachen gesehen, aber diese Videos und Bilder sind da um einiges schärfer und absolut nichts für sanfte Gemüter. Außerdem werde ich solche Medien in keinster Weise unterstützen.

Das sind natürlich von mir jetzt nur geschilderte Einzelfälle, ich weiß aber das die o.g. Beispiele vermehrt in China vorkommen. (bei 1,3 Mrd. Menschen natürlich wenig verwunderlich) Erschreckend finde ich diese Einstellung zum Menschenleben, das anscheinend gar nicht repektiert wird. Mir ist durchaus bewusst, dass in Süd- und Mittelamerika und vor allem in Afrika das auch keine Seltenheit ist, aber ich hätte von der so großen und alten chin. Kultur da etwas mehr Ethik erwartet, denn weder der Daoismus noch der Konfuzianismus rechtfertigen das, vom Buddhismus mal ganz abgesehen. Ist es das so viel besprochene moralische Vakuum? Oder das Erbe der Hungerskatastrophe und der Kulturrevolution, die auch eine gewisse Mitleidsresistenz mit sich brachten und den Tod sowie Tote alltäglich machten?

Auf jeden Fall mal wieder entäuschend, aber so weiss ich mal wieder, dass man bei der Moral viele Abstriche machen muss wenn man sich in China gut integrieren will.

„Sie waren wie wilde Tiere – Ein Menschleben ist in China nunmal nicht viel wert!“
aus Zhu Wen, I love Dollars und andere Geschichten aus China
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báitù
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von báitù »

Diese drei Fälle hätten sich genauso noch vor wenigen Jahren in Ex-Jugoslawien (z.B. Srebrenica) abspielen können, so gesehen ist auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft (noch) nicht alles so ganz in Ordnung, zumindest nicht so, wie wir dies mit unseren ethisch-moralischen Grundsätzen beurteilen würden.

Aber sind unsere ethisch-moralischen Grundsätze die allumfassende, alleinige Wahrheit?! :?:

Ich denke jeder Kulturkreis nimmt für sich in Anspruch, den vermeintlichen Schlüssel zu einem menschenwürdigen Miteinander gefunden zu haben. Und der jeweils andere sieht es entsprechend anders. Die Einhaltung der Menschenrechte der UN wäre eine gemeinsame Basis - mehr nicht.

Zum Umgang mit den Körpern von Toten fällt mir z.B. spontan ein, dass die Tibeter diese den Geiern zum Fraß vorwarfen, die indigenen Völker Nordamerikas ebenso. Und was die Somalier mit den toten Amerikanern (siehe black hawk down) gemacht haben, haut selbst Sancho Pansa vom Esel...

Der Mensch ist und bleibt ein leider nur mäßig sozialisiertes Tier! :evil:
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Sean

Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von Sean »

báitù hat geschrieben:Diese drei Fälle hätten sich genauso noch vor wenigen Jahren in Ex-Jugoslawien (z.B. Srebrenica) abspielen können, so gesehen ist auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft (noch) nicht alles so ganz in Ordnung, zumindest nicht so, wie wir dies mit unseren ethisch-moralischen Grundsätzen beurteilen würden.
Und das macht es weniger schlimm, wenn es in China passiert? Dieses Argument erinnert mich an Diskussionen mit Chinesen, in denen sie auf Berichte von Menschenrechtsverletzungen in China mit dem Hinweis reagieren, dass in Deutschland auch schon mal Menschen im Gefaengnis umgekommen sind - als ginge es um einen Wettbewerb "Mein Land ist besser als dein Land.
Aber sind unsere ethisch-moralischen Grundsätze die allumfassende, alleinige Wahrheit?! :?:
Mit diesem relativistischen Totschlagargument kannst du auch alles rechtfertigen. Von Maedchen-Beschneidung bis zum Voelkermord. "Diese Kultur ist halt so" oder "War halt Krieg". Da misch ich mich nicht ein, meine Moralvorstellungen sind ja nicht universell.

Natuerlich hat der Umgang mit Toten etwas mit dem Umgang mit lebenden zu tun. Und natuerlich endet bei Menschenrechten die Entschuldigung mit dem kulturellen Relativismus.

Ich stimme deshalb dem OP zu, dass die genannten Faelle ein Symptom fuer die geringe Wertschaetzung sind, die dem einzelnen Menschen in der chinesischen Gesellschaft entgegengebracht werden. Besonders im ersten Fall kommt natuerlich dazu, dass das zur Anti-Uiguren-Propaganda passt. Und die anderen Faelle erinnern mich ans europaeische Mittelalter, wo Hinrichtungen oeffentlich waren und man die Leichen oft auch oeffentlich hat verwesen lassen.

Meine laienhafte Erklaerung dafuer ist, dass jeder Mensch das Beduerfnis hat, sich selbst nicht als das untere Ende der sozialen Leiter zu sehen. Und je schlechter es dem Durchschnitt geht, um so drastischer muss ein Ereignis sein, das bei ihm das Gefuehl "mir geht's zwar schlecht, aber die sind noch schlimmer dran" auszuloesen, das ihn seinen Alltag besser ertragen laesst. Fuer den durchschnittlichen Deutschen reicht es, das Unterschichten-TV mit "Bauer sucht Sau" oder "Suppen-Nanny" oder "Frauentausch" anzusehen. Fuer die, die in China zum unteren Drittel gehoeren, muss es etwas staerkerer Tobak sein.
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Maikea
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von Maikea »

Naja, ich denke auch nicht, dass es DIE Chinesen sind.. Nicht generalisierend, sondern eher generalisierend auf den Mensch bezogen.
Natürlich mag ich sowas auch nicht akzeptieren..
Menschliche Grausamkeit ist vielfältig und überall..
Ich denke, die Aussage, Menschenleben ist in China nichts Wert, völlig fehl am Platz.
Genauso könnte man behaupten, dass dies genauso in Venezuela der Fall ist, weil dort das absolute Abtreibungsverbot ausgerufen wurde (= viele tote Frauen). Nur ein kleines Beispiel.

Was zum Schmunzeln (oder auch nicht):
Irgentwie erinnerte mich dieses Thema an einen Satz aus der Bild der Wissenschaft 5/2010:
"Es ist Quatsch, dass der Mensch im Grunde ein friedvolles Wesen ist. Friedfertigkeit wäre evolutionsbiologisch völlig widersinnig!" Bernd Hölldobler, Biologe
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die andere der Mond.
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von otternase »

báitù hat geschrieben:Diese drei Fälle hätten sich genauso noch vor wenigen Jahren in Ex-Jugoslawien (z.B. Srebrenica) abspielen können, so gesehen ist auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft (noch) nicht alles so ganz in Ordnung, zumindest nicht so, wie wir dies mit unseren ethisch-moralischen Grundsätzen beurteilen würden.
[...]
Und was die Somalier mit den toten Amerikanern (siehe black hawk down) gemacht haben, haut selbst Sancho Pansa vom Esel...
diese beiden Beispiele passen nicht ganz, zumindest nicht auf alle genannten Fälle: bei diesen Vorfällen war den Menschen, die derartiges verübten, sehr wohl bewusst, dass dies ein moralisch verwerfliches Verhalten und eine extreme Minachtung der Toten war, sie haben bewusst diese Grenze übertreten, um die Toten zu verhöhnen, zu verspotten und auch die Angehörigen der Toten zu beleidigen und anzugreifen, die damit gezeigte Verachtung der Toten war bewusstes Ziel. Zudem fand beides in Kriegssituationen statt, wo Ethik und Moral eh eine untergeordnete Rolle spielt.

In dem aufgeführten Beispiel der "Steinigung" der Diebe mögen ähnliche Überlegungen auch eine Rolle gespielt haben, aber zumindest der Fall der verunglückten Autofahrerin war sicher nicht bewusst mit dem Ziel einer Verhöhnung des Opfers verbunden, sondern in der Tat ein Zeichen mangelnder Wertschätzung fremden Menschen gegenüber.

Im Falle des Vorführens der Opfer von Anschlägen o.ä. (Beispiel 1) würde ich vermuten, dass dies bewusst geschieht, um den Zuschauer zu beeinflussen, die Persönlichkeitsrechte des Opfers werden hier als niederwertiger eingestuft als die Möglichkeit, die Bevölkerung gegen die Attentäter o.ä. zu mobilisieren.
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von báitù »

Sean hat geschrieben:Und das macht es weniger schlimm, wenn es in China passiert?
Nein! Habe ich auch aber gar nicht gesagt, sondern nur aufzeigen wollen, dass es nicht allein chinaspezifisch ist.
Sean hat geschrieben: Mit diesem relativistischen Totschlagargument kannst du auch alles rechtfertigen.
Dies war kein Argument, schon gar nicht zum Totschlagen (ich bin Pazifist), sondern nur die Anregung zum Hinterfragen der ethisch-moralischen Grundsätze, wie wir (der Westen) sie kennen.
Sean hat geschrieben: Da misch ich mich nicht ein, meine Moralvorstellungen sind ja nicht universell.
Wer sich einmischt sollte die Hintergründe kennen. Auch wenn ich bei den drei Szenarien selbst Kotzen könnte, kenne zumindest ich diese in den vorliegenden Fällen nicht.

Fakten sind:

Unsere Medien verzapfen auch bei uns 'ne Menge Sauereien (REM: Gladbecker Geiseldrama), Lynchmorde sind in anderen Ländern gang und gebe (von "amtlichen" öffentlichen Steinigungen wie z.B. im Iran oder Nigeria gar nicht zu reden), und der Umgang mit den Körpern von Toten ist häufig nunmal kulturkreisabhängig (z.B. Bestattungen im Ganges in Indien usw.).

Wenn ich dann sehe, dass z. B. in Deutschland Kinder, die im 7. Monat als Fehlgeburt tot auf die Welt kommen nicht in Personenstandsbücher eingetragen werden können, wenn sie weniger als 500 Gramm wiegen, kann man trefflich über andere Dinge diskutieren.(u.a. http://www.arbeitsrecht.bkp-kanzlei.de/ ... O_PStG.pdf)
Bei uns beginnt die Menschenwürde also erst bei einem Pfund Fleisch... :evil:
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von hifi »

Ich denke, dass die Aufregung von sanctus gerechtfertigt ist.

In China zählt das Menschenleben allgemein nicht sehr viel. Nicht nur der Respekt vor den Toten fehlt, auch das Mitgefühl für anderen Menschen ist etwas unterkühlt, wenn es sich nicht um eigenen Freunden und Verwandten handelt. Als ich 2007 in Kunming war, habe ich ein sehr junges Geschwisterpaar auf der Straße kniend gesehen. Vor Ihnen ist eine Bettelschale und ein Schild: "Bitte gibt uns etwas Geld, damit wir in die Schule gehen können." Diese Szene beschäftigte meine Frau und mich sehr lange und wir können es einfach nicht vergessen. Als ich mit meinen alten Schulfreunden in Shanghai darüber sprach, dann sagten sie alle sofort ohne zu zucken: "Du brauchst Dir darüber doch keine Sorgen zu machen! Es ist sicherlich gestellt." Interessante Weise sehe ich auch die gleiche Reaktion von Ausländern, die etwas länger in China leben. Das Leben dort scheint die Menschen abzuhärten.

Vielleicht liegt "das Problem" bereits in der langen freudalen Geschichte Chinas, wo ein Mensch, außer den Adligen der jeweiligen Dynastie nie als Individuum betrachtet wurde. Beispiels Weise wurden bereits in sehr alten Geschichtsschreibungen die Naturkatastrophen, wo viele Menschen umkamen, als Bestrafung des Himmels an den Himmelssohn, also den Kaiser verstanden. Sein Volk soll also dafür sterben, wenn der Kaiser nicht fähig ist zu regieren. So war das Verständnis von Menschenleben. Eine europäische Aufklärung und die Ideen des Humanismus gab es ja nie in China.

Die 3 Fällen, die sanctus genannt hat, sind dennoch sehr verschieden. Während die Darstellungen in CCTV während der Unruhen in Xinjiang sicherlich politisch motiviert und von vornherein kalkuliert war, gehören die beiden anderen Fällen für die meisten Menschen, die da rumstanden, zu 看热闹. Es hat das gleiche Motiv wie die gaffenden bei Unfällen hier zu Lande und fast die gleiche Qualität wie die Boulevardpresse und ihre Leserschaft hier.

Die "große alte chinesische Kultur" mit ihrer moralischen Glanzleistung kann man nicht in China suchen. Da ist einfach viel zu viel während der großen Kulturrevolution futsch gegangen. Sicherlich reflektiert das etische Bewusstsein in dem gesamtgesellschaftlichen Spektrum ganz verschieden und die Bildungsschicht würde vielleicht weniger jemanden Lynchen wollen, oder an Bilder von Toten amüsieren, aber wenn man die idealisierte asiatische Höflichkeitskultur suchen möchte, dann sollte man heute lieber nach Taiwan, Japan oder Südkorea fahren.

@sanctus
Verbuche das mal als Kulturschock und freue Dich mal daran, dass Deine Frau und ihre Familie sehr wohl moralischen Anstand besitzen.
Mathias
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von Mathias »

Sicher fällt es auf, wie unverblümt Opfer von Unfällen oder Straftaten z.B. im chinesischen Fernsehen, hier besonders in den Regionalsendern, dargestellt werden. In Asien gibt es die, stark christlich geprägte (eigentlich hat uns erst die Aufklärung unsere heutige, etwas steife Moral eingebrockt), Pietät z.B. Toten gegenüber einfach nicht. Zudem hat Privatsphäre hier auch nicht den Stellenwert, den sie im Westen besitzt.

Wie hifi schon richtig schrieb muß man die von sanctus geschilderten Beispiele werten.

Opfer politischer Gewalt (oder für die Gutmenschen unter uns, von sozialen Unruhen) zu zeigen, dient der Propaganda. Ein billiges und wirkungsvolles Instrument, nicht nur in China.

Die tagesaktuelle Ausstrahlung der schockierendsten Polizeivideos soll wohl der Verkehrserziehung dienen. Wer den chinesischen Straßenverkehr kennt, kann sich denken, daß diese Maßnahme offensichtlich wenig bringt.

Schockierende Darstellungen im Internet bedienen die Schaulust und den Voyeurismus. Wer auf so etwas steht, findet sicher Unmengen gruseliger Dinge im WWW.
sanctus hat geschrieben:... Auf jeden Fall mal wieder entäuschend, aber so weiss ich mal wieder, dass man bei der Moral viele Abstriche machen muss wenn man sich in China gut integrieren will ...
Hört sich nach Kulturschock an :wink: Moral ist nicht universell! Versuch die Moral der "Anderen" zu verstehen, es hilft Dir auch Deine Dir anerzogenen Moralvorstellungen besser zu verstehen, übrigens eine gute Vorbereitung auf den späteren Eigenkultur-Schock :mrgreen:
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von otternase »

Mathias hat geschrieben:Die tagesaktuelle Ausstrahlung der schockierendsten Polizeivideos soll wohl der Verkehrserziehung dienen. Wer den chinesischen Straßenverkehr kennt, kann sich denken, daß diese Maßnahme offensichtlich wenig bringt.
Gutes Stichwort, "Schockfilme" zur Verkehrserziehung hat es -mit ähnlich geringem Erfolg- auch "im Westen" gegeben, man erinnere sich da an den wohl legendärsten aller Verkehrserziehungsfilme:

http://www.archive.org/details/Signal301959
http://www.archive.org/details/Signal301959_2

dort wurden die Instrumente empathiefreier Schilderung von schweren Verkehrsunfällen und unzensierter Bilder von Sterbenden und Toten auch bewusst als "Schockelemente" eingesetzt.
aquadraht
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von aquadraht »

hifi hat geschrieben:Ich denke, dass die Aufregung von sanctus gerechtfertigt ist.
...
Also mir kommt das ziemlich grossmäulig und arrogant vor. Oder
mindestens naiv und ignorant.

Als ich das erste Mal in Indien war (das war vor meinem ersten Mal in China
und ist eine Weile her), war dort die Versorgungslage noch deutlich schlechter
als heute (genau genommen war die Bruttomortalität etwas, aber nicht viel
niedriger als während der drei Jahre des "grossen Sprunges" in China). Vor
allem in den Slums der grossen Städte ging es den Menschen sehr schlecht
(es geht ihnen heute noch nicht toll, aber es ist kein Vergleich mehr). Jedenfalls
starben in den Slums jeden Tag nicht wenige Leute, an Alter, Krankheiten,
Unterernährung.

So etwas wie Bestattungsinstitute war da natürlich nicht. Die bis zum frühen
Morgen Verstorbenen wurden aus den Wohngebieten rausgekarrt (meist
auf Handkarren, das machten irgendwelche Dalits, denen die Anwohner
ein paar Paise dafür gaben. Die Leichen lagen von Sonnenaufgang
stundenlang, wie Hasen nach einer "erfolgreichen" Jagd. Ein paar
Wagen im städtischen oder bezirklichen (Tehsil) Auftrag sammelten
die dann im Laufe des Vormittags ein. Dazwischen spielten Kinder,
gingen Leute ihrem normalen Leben nach.

In China war das nach 1949 nie so krass, ausser in den katastrophalsten
Jahren, etwa des Grossen Sprunges, oder während der Massenhysterie
der Kulturrevolution. Aber wer die moderne chinesische Literatur etwas
kennt (Lu Xun, Lao She u.a.) hat schon eine Vorstellung davon, wie
es mit der Erfahrung der Menschen mit Krankheit, Tod und Gewalt
aussah. Das ist in vielem dem Europa der frühen Neuzeit näher als
der Moderne.

Insofern finde ich die Auslassungen von sanctus und hifi im besten Falle
naiv und arrogant. Das "wir" im übrigen nicht "besser" sind, sollte klar
sein. Die Pogrome von Rostock und anderswo mit ihren insgesamt
bis zu 200 Toten und über tausend Verletzten sind keine zwanzig
Jahre her. Und vorher haben die hochzivilisierten Westler sich bei
vielen Gelegenheiten so aufgeführt, dass man über den Wert eines
Menschenlebens lieber den Mund hält und vor der eigenen Tür kehrt.

Sicher sind Lynchverbrechen, wo auch immer, zu verurteilen. Und es
trifft auch zu, dass es in China eine befremdliche Law-and-Order-
und Abschreckungsmentalität gibt. Aber die geringere Distanz gegenüber
Splatterszenen kommt meiner Meinung nach daher, dass China immer
noch bäuerlich geprägt ist: über die Hälfte der jetzigen Stadtbewohner
haben vor einer Generation noch auf dem Land gelebt, 1950 waren
nur ca. 10% der Chinesen Städter.

Das bedeutet, dass die städtisch-bürgerlich geprägte Kultur, in der
Geburt und Tod hinter geschlossenen Türen stattfinden und man
darüber Tücher und Tünche ausbreitet, noch nicht in dem Masse bei
den Chinesen (und übrigens auch den Indern) angekommen ist.

Deshalb sind sie weder abgestumpfter noch gewalttätiger. Gerade
China hat eine niedrigere Gewaltquote als die meisten westlichen
Staaten.
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von otternase »

zunächst Zustimmung zu dem von Kraken Geschriebenen: es geht hier um China, nicht um Indien oder Europa. Wenn in Indien ein Menschenleben nicht viel wert ist, sagt das nichts darüber aus, ob es in China mehr oder weniger wert ist.


Am Rande:
aquadraht hat geschrieben:Die Pogrome von Rostock und anderswo mit ihren insgesamt
bis zu 200 Toten und über tausend Verletzten sind keine zwanzig
Jahre her.
ist hier off-topic, aber trotzdem, wo kommen denn bitte die Zahlen von "200 Tote" "tausende Verletzte" her?
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von Phytagoras »

Die letzten beiden Fälle sind doch nicht gerade Chinaspezifisch.

Gibt doch genug Snuff-Seiten im Internet, wo man sich solche Videos anschauen kann.
aquadraht
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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von aquadraht »

otternase hat geschrieben:
aquadraht hat geschrieben:Die Pogrome von Rostock und anderswo mit ihren insgesamt
bis zu 200 Toten und über tausend Verletzten sind keine zwanzig
Jahre her.
ist hier off-topic, aber trotzdem, wo kommen denn bitte die Zahlen von "200 Tote" "tausende Verletzte" her?
Die Zahl war meiner Erinnerung nach eine Schätzung von SOS Rassismus. Die offiziell zugegebenen Zahlen einschliesslich der Brandanschläge von Mölln, Solingen und Lübeck lagen bei über 50. Es wurden aber reihenweise fremdenfeindliche und rassistische Mord- und Totschlagsfälle als "unpolitisch" abgewiegelt, selbst wenn die Täter unmittelbar aus der rechtsextremen Szene stammten. Die Zahl der Mord- und Totschlagsopfer pro Jahr stieg zwischen 1992 und 1995 von um 550 zur Zeit der Wiedervereinigung auf ca. 740, heute sind es 360. Insofern ist die Schätzung von 200 Todesopfern eher konservativ.
Verletzte gab es bei den zwischen 1992 und 1993 fast täglichen Ausschreitungen in grosser Zahl. Erst als das Kohlregime das Ziell der Abschaffung des Asylrechts erreicht hatte, wurde dagegen etwas stärker vorgegangen.

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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von aquadraht »

Kraken hat geschrieben:@Aquadraht
Was bitte versprichst Du Dir von einem Vergleich mit dem Westen oder Indien und dem Aufzählen von vermeintlichen Verbrechen, Todesopfern, staatliche Repression, Verfolgung etc. pp.? Es ist doch hier von der VR China die Rede. Apfelmännchenrechnungen aufzuführen hilft hier niemandem weiter m. E. n.
Deshalb sind sie weder abgestumpfter noch gewalttätiger. Gerade
China hat eine niedrigere Gewaltquote als die meisten westlichen
Staaten.
Und?
Du versuchst hier eine antikommunistische Kampagne herbeizupredigen, während wohl sanctus eher über die Mentalität der Chinesen klagte. Ich will auf Deine Politisierei nicht eingehen, klar ist für ideologische Betonköpfe wie Dich die chinesische Regierung der Gottseibeiuns und Ursache allen Übels, auch des schlechten Wetters. Darüber diskutiere ich in diesem Zusammenhang nicht, es bringt vermutlich auch in anderem nicht viel.

Ich bin aber auf sanctus u.a. eingegangen. Meiner Meinung nach haben er und andere Probleme mit Haltungen und Verhalten, wie sie in vormodernen Gesellschaften und solchen im Aufbruch in die Moderne nicht unüblich sind. Insofern passte Indien, mit in vielen Dingen mit China gut vergleichbaren Verhältnissen, recht gut. Und manches erinnert auch an Quellen aus der frühen Neuzeit in Europa, als die Denk- und Verhaltensweisen durch alle Volksschichten auch deutlich rustikaler waren.

Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, wenn ich bestimmte barbarische Verhaltensweisen in Deutschland herbeigezogen habe, das diente eher der Veranschaulichung, dass unsere zivilisierte Haltung zu guten Teilen auch bloss Tünche und Heuchelei ist, teilweise auch Ver- und Entfremdung, insofern Unangenehmes und Verstörendes wie Krankheit, Tod etc. abgedrängt, abgeschottet und abgedeckt werden. Und wenn andere das nicht tun, finden wir das barbarisch.

Die niedrigere Gewaltquote zeigt, dass die Menschen eben nicht so abstumpfen und verrohen, wie Sprüche wie "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!" suggerieren. Ich habe auch selbst gesehen, wie ein älterer Mann mit seinem Fahrrad stürzte und sich gleich eine Reihe von Leuten um ihn kümmerte. Insofern sollte man mit solchen Urteilen eben vorsichtig sein.

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Re: "Ein Menschenleben ist in China nunmal nicht viel wert!"

Beitrag von báitù »

hifi hat geschrieben:Als ich 2007 in Kunming war, habe ich ein sehr junges Geschwisterpaar auf der Straße kniend gesehen. Vor Ihnen ist eine Bettelschale und ein Schild: "Bitte gibt uns etwas Geld, damit wir in die Schule gehen können." Diese Szene beschäftigte meine Frau und mich sehr lange und wir können es einfach nicht vergessen.
Als ich heute in meiner Mittagspause durch die Stadt ging, habe ich ein sehr junges Geschwisterpaar auf der Straße kniend gesehen. Vor Ihnen ist eine Bettelschale und ein Schild: "Bitte gibt uns etwas Geld, damit wir überleben können." Diese Szene beschäftigte mich überhaupt nicht (bin ich deswegen Chinese?) und ich hatte sie schon fast vergessen, denn das ist bei uns Tagesgeschäft, und es sind keine Landsleute die dort sitzen, sondern Betteltouristen aus Rumänien, Bulgarien oder sonstigen Ostblockländern.

Hilft das der Diskussion weiter? Ich denke nein, wie vieles, was von den Vorrednern zum Besten gegeben wurde. Jeder guckt halt durch die Brille, die er sich selbst geputzt hat.

Nochmal: Die Zustände in einigen Gegenden in China mögen beklagenswert sein. In einigen anderen Gegenden auf diesem Globus sind sie es auch. Jeder möge daran ändern, was in seiner Macht steht.
Plakative Überschriften (wie in diesem Faden) bringen uns nicht den Weltfrieden! Peace, brother, peace, peace, peace!
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